5. Riley
Manche Menschen sind gut darin Dinge alleine zu machen. Egal, ob es spazieren, Essen oder ins Kino gehen ist. Es macht ihnen nichts aus, wenn sie schräg von der Seite angeschaut werden. Sie sind gut darin, Zeit mit sich selber zu verbringen, und genießen es.
Ich kann das nicht.
Jedenfalls fühle ich mich wirklich unwohl, seit ich mich in diesem kleinen Café auf dem Campus gesetzt habe und an meinem Eiskaffee schlürfe. Obwohl nur wenige Leute sich hier tummeln, kommt es mir vor, als würden sie alle mich genaustens beobachten.
Ein grauenvolles Gefühl.
Meine Augen gleiten zu der Bedienung, die scheinbar hastig ihren Kopf senkt und sich einer Bestellung widmet.
Das bilde ich mir bestimmt nur ein.
Dennoch rutsche ich tiefer in den Stuhl und schlürfe an dem Kaltgetränk, wobei ich mich auf das Buch konzentriere, das vor mir liegt. Ich habe es nicht geschafft mehr als zwei Seiten zu lesen, weil mich eine seltsame Paranoia heimsucht. Stattdessen habe ich abwechselnd aus dem Fenster geschaut und anschließend an meiner Bücher-Wunschliste zu arbeiten. Zwar ist es noch ein wenig hin bis Weihnachten, aber man kann nie früh genug vorsorgen. Doch auch die Neuerscheinungen waren schnell durchgeguckt und nun sitze ich hier und starre Instagram an.
Leer ist die passende Bezeichnung, obwohl das bei diesem Social Media Instrument nahezu unmöglich ist. Ein Klick und man wird mit Content überhäuft. Trotz Hashtags und Kommentaren unter manch anderen Beiträgen, beläuft sich meine Followerzahl auf null.
Uninteressant wäre noch eine nette Beschreibung für mich.
Gut, mein Account wirkt nicht sonderlich professionell. Mein Profilbild ist ein Foto vom Abschlussball, zu dem meine Mom mich gezwungen hat und in meiner Beschreibung steht nur mein Alter und, dass ich Studentin bin. Und obwohl mein Benutzername _riley_wilder_ und das Profil öffentlich ist, hat sich keiner bei mir gemeldet.
Wenigstens haben meine Eltern kein Instagram.
Sonst müsste ich mich vielen Fragen stellen, auf die ich keine Antwort habe.
Ein tiefer Seufzer entgleitet mir und ich stemme das Kinn auf die Hand, während draußen lachend Menschen umherlaufen.
Manchmal wünschte ich, dass ich jemand anders sein könnte. Jemand, der nicht mitleidig angesehen wird und nicht jeden Tag gefragt wird, ob er Tabletten nimmt. Eine Person, die…
Ich runzle die Stirn und starre auf mein Profil.
Warum mache ich das nicht einfach?
Ich könnte jemanden erschaffen, den keiner kennt. Sowas wie ein anonymes Tagebuch. Vielleicht finde ich Freunde, wenn mein Name nicht bekannt ist. Wenn es nicht ums Aussehen geht, sondern um die Hobbys.
Innere Werte und das, was immer groß an die Tafel geschrieben wird.
Was, wenn mein Grauer-Mäuschen-Look die Leute abschreckt?
Langsam richte ich mich auf, vergesse das Café um mich herum und das Zischen der Kaffeemaschine. Meine Finger umklammern das Smartphone, während Instagram mir völlig neue Möglichkeiten eröffnet.
Ich kaue auf der Unterlippe und öffne die Einstellungen und klicke auf den Namen, den ich Zeichen um Zeichen lösche.
just.a.girl
Ich starre auf den neuen Namen, der mir einfach aus den Fingern geflossen ist. Meine Mundwinkel wandern nach oben. Einfach so, ohne dass ich mich anstrengen muss.
Ja, das wäre ich gerne.
Einfach.
Keine Amnesie, keine Narbe auf dem Hinterkopf und kein komisches Verhältnis zu Vater und Großvater.
Nacheinander lösche ich die vier Bilder, die ich bisher hochgeladen habe und die keine Reaktion erhalten habe. Dann öffne ich das Fotoalbum auf meinem Handy. Sofort springt mir das Bild entgegen, dass mein Dad aufgenommen hat, als Mom noch hier war. Wir saßen abends am See und haben einander angeschaut und gelacht, nachdem er uns mitgeteilt hat, dass er niemals Serien schaut.
Es ist eins meiner Lieblingsbilder von uns. Wahrscheinlich weil ich mich in dieser Sekunde so normal gefühlt habe. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass man mein Narbe nicht sieht, weil ich den Kopf zur Seite gedreht habe. Wenn ich das Bild ein wenig zuschneide, dann könnte es klappen …
Ich öffne das Bildbearbeitungsprogramm und beginne das Foto zu beschneiden. Anschließend spiele ich noch mit den Filtern herum und bleibe bei einem hängen, der einen Polaroid-Effekt hat. Zufrieden öffne ich Instagram und füge mein gesichtsloses Profilbild ein, das ich begutachte.
Nein, man erkennt nicht, dass ich das bin. Weder anhand des Hintergrundes, noch durch meine Haare, die hochgesteckt sind. Das könnte jede Dritte sein, die an mir vorbeiläuft. Es ist also perfekt.
Dann klicke ich auf Profil bearbeiten und lösche die Beschreibung. Stattdessen füge ich eine einfache Frage hinzu. Dann schalte ich auf die Kamera um, und rücke den Eiskaffee näher an das Buch, das auf dem Tisch liegt. Dann teste ich die Winkel aus, zögere und drücke schließlich den Auslöser.
Nur ein einziges Mal.
Das Bild muss passen.
Wieder lege ich den Polaroid Filter darüber und bearbeite das Foto. Zwischendurch schlürfe ich an dem Kaltgetränk und dann bin ich zufrieden mit meinem Ergebnis. Ich bin versucht zu zögern, mir tausend Gedanken über den Post zu machen, doch dann reagiere ich, wie schon bei dem Namen. Ich gebe einen kurzen Text ein, der aus dem Bauch kommt, lese den Satz ein weiteres Mal und veröffentliche ihn dann.
Mit einem kribbeligem Gefühl im Magen lehne ich mich zurück und beobachte den blauen Ladebalken. Dabei schlürfe ich die letzten Reste aus dem Glas und hänge mir meinen Rucksack über die Schulter. Ich schnappe mir das Handy und schlendere durch den Laden. Bevor ich jedoch die Tür erreiche, ertönt ein ohrenbetäubendes Scheppern, das mich herumwirbeln lässt. Ein schlaksiger Kerl, der von einer Kellnerin einen bösen Blick zugeworfen bekommt, hat sich bereits hingekniet und beginnt Scherben aufzusammeln. Wenn ich kellnern würde, würde mir das mehrmals am Tag widerfahren.
Ich lasse den Unglücksraben hinter mir und verlasse das Café. Kaum, dass ich auf der Straße bin, schlägt mir die erbarmungslose Hitze des Asphaltes entgegen. Nach drei Schritten sehne ich mich nach dem See und dann ist es da plötzlich.
Dieses Kribbeln, das ich immer mal wieder im Nacken verspüre.
Ich werfe einen Blick über die Schulter und meine zu sehen, wie der ungeschickte Kellner den Kopf senkt. Fast so, als …
Nein.
Nicht schon wieder einer meiner paranoiden Phasen. Bestimmt hat er nur die kahlgeschorene Stelle am Hinterkopf gesehen und sich gewundert. Er wäre nicht der Erste.
Ein Seufzer entweicht mir und ich blicke wieder auf das Display in meiner Hand, das ein neues Profil zeigt. Augenblicklich muss ich lächeln und schiebe die Erinnerungen an die mitleidigen Blicke beiseite.
Ab jetzt, bin ich jemand anderes, als Riley Wilder.
Jedenfalls im Internet.
Und das fühlt sich echt gut an.
Mein Hochgefühl und neu erworbenes Selbstvertrauen nimmt ab mit jeder Stunde, die das Abendessen näher rückt. Als schließlich der Geruch von der glühenden Kohle durch die offenen Fenster in meine Wohnung zieht, muss ich mich fast übergeben.
Aufregung ist eine grauenvolle Sache.
Ich kann mir wirklich nicht erklären, wie Menschen sich freiwillig auf Bühnen stellen und sich dabei noch auf das Lampenfieber vorher freuen würden. Mich würde wohl eine Mischung aus Ohnmacht, Übelkeit und Panik überfahren. Oder noch schlimmer. Vielleicht ein Herzinfarkt?
Immerhin kann ich schon jetzt die Symptome spüren, dabei steht mir lediglich ein einfaches Abendessen bevor. Eins, das sich schon jetzt anfühlt, wie die Aufnahmeprüfung einer Eliteuniversität. Deswegen fiel es mir auch so schwer mich für ein angemessenes Outfit zu entscheiden. Und trotz langer Recherche im Internet, stehe ich mit schwitzigen Händen vor der Haustür. Meine Augen sind auf die Spitzen meiner weißen Chucks gerichtet, die ich eben mit einem Tuch gesäubert habe.
Komm schon, Wilder.
Du musst nur nett lächeln und ein paar belanglose Fragen beantworten. Dann isst du schnell, entschuldigst dich mit Kopfschmerzen und verschwindest. Dafür erntest du zwar mitleidige Blicke, aber es werden keine unangenehme Fragen gestellt – hoffe ich.
Ich hole tief Luft und klammere mich an dem beigen Strickpullover fest, den ich zum Überziehen dabei habe. Zwar ist es noch warm, doch bei der eisigen Stimmung, die zwischendurch aufkommt, könnte es mir in dem blauen Kleid zu frisch werden. Mit entschlossener Miene verlasse ich das Haus und lasse mich nicht von den leisen Stimmen verunsichern, die zu mir schallen. Meine Finger zittern, als ich die Tür zuziehe und loslaufe. Die laue Wärme des Sommerabends umstreicht meine Beine und die Sonne, versinkt langsam auf der anderen Seite des Sees. Zu gern würde ich jetzt mit einem guten Buch auf dem Steg sitzen und den Sonnenuntergang betrachten.
Mir entfährt ein sehnsüchtiger Seufzer und ich werfe einen Blick über die Schulter. In der gleichen Sekunde passieren zwei Ding.
- Ich entdecke Colin, der die Haustür zuzieht und sich in meine Richtung dreht.
- Es ertönt ein Kreischen, das mir fast da Trommelfell zerreißt. Doch bevor ich reagieren kann, prallt etwas gegen mich und bringt mich so aus dem Gleichgewicht, dass ich falle. Der erschrockene Aufschrei bleibt mir in der Kehle stecken, als ein Schmerz durch mein Steißbein zieht und feine Steinchen sich in meine Handflächen bohren.
Staub wird aufgewirbelt und mein Kopf braucht einen Moment, ehe er registriert, was mich umgeworfen hat. Ein kleiner Junge mit hellblonden, zotteligen Haaren, hockt auf allen vieren vor mir und starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Noch bevor ein Ton über meine Lippen kommt, ist er aufgesprungen und rennt vor mir weg.
Sehe ich so schrecklich aus?
Schockiert schaue ich den kurzen Beinen nach, beobachte, wie er über die Wiese zu der Terrasse läuft, wobei auf halbem Wege ein Mädchen zu ihm stößt. Soweit ich das beurteilen kann, ist sie genauso hübsch wie der Junge und wirft wild kichernd einen Blick in meine Richtung.
Wunderbar.
Peinlicher Auftritt die Dritte.
Keine Panik, das waren nur zwei kleine Kinder, die…
Meine Gedanken werden unterbrochen, als Schritte ertönen und mein Gehirn beginnt das zu verarbeiten, was ich einen Wimpernschlag vor dem Zusammenstoß gesehen habe. Hitze schießt mir in die Wangen, als ich hastig das Kleid über meine Oberschenkel schiebe. Dann wird es still und im Augenwinkel entdecke ich ein paar Turnschuhe.
Ich will das nicht.
Trotzdem beginnen meine Augen nach oben zu wandern. Von den Füßen, über die kurze Jeans, bis zu dem weißen T-Shirt.
Vielleicht hilft er mir auf und wir gehen gemeinsam, lachend zum Essen? Dann würde ich mich willkommener fühlen und nicht so…
Jeder Funke an Hoffnung, der in mir wie eine kleine Wunderkerze losgeschossen ist, erlischt, als ich Colins Gesicht betrachte. Arroganz und angewidert sieht der Kerl auf mich hinab und meine Kehle wird mit einem billigen Heißluftföhn ausgetrocknet.
Niemand zuvor hat mich je zuvor so verärgert angeschaut. Nicht einmal Mum, als ich außversehen ihre Festplatte gelöscht habe.
Ich öffne den Mund, will etwas sagen, was diesen Ausdruck vertreibt, doch wie immer versage ich. Stattdessen schüttelt er den Kopf, als würde ich ihn enttäuschen und lässt mich links liegen.
Wortwörtlich.
Fassungslos sehe ich dem jungen Typen nach, der gelangweilt zu der Terrasse schlendert, wo ihm der kleine Junge, der mich umgeschmissen hat, in die Arme rennt. Sogar das Mädchen, das mich ausgelacht hat, stürmt auf den unfreundlichen Idioten zu.
»Nein, ich hab mich nicht verletzt, spiel einfach weiter. Wie? Du möchtest mir aufhelfen?«, knurre ich, während ich mich hochraffe und meine Hände von den spitzen Steinen befreie. »Wirklich nett von euch. So liebenswert. Allesamt«, zische ich und klopfe den Staub ab, wobei ich mich bemühe böse Blick in die Richtung der Unruhestifter zu vermeiden. Dabei wünsche ich mir aus tiefsten Herzem einen Platzregen über der Terrasse.
Mit Donner und Blitz.
Trotzdem muss ich ruhig bleiben. Es war ein Versehen. Der kleine Junge ist schüchtern und hat sich erschreckt. Das Mädchen fand es witzig, dass er so geschockt weggerannt ist und der Idiot…
Der ist bestimmt blind und hat nicht gesehen, dass ich gefallen bin.
Ich versuche, ruhig und tief zu atmen, während ich ein Lächeln auf meine Lippen quäle und auf die Horde zugehe, die mich schon jetzt nachdenklich begutachtet. Als wäre ich ein potenzieller Eindringling – oder ein feindlicher Anwalt. Die Reaktion, die mir ein wenig die Angst nimmt, ist mein Dad. Kaum, dass ich in Sichtweite bin, lässt er die Grillzange fallen und wischt sich die Hände an der Lederschürze ab. Ein gigantisches Grinsen steht auf seinem Gesicht, als er näher tritt und mich mit offenen Armen empfängt.
»Pearl, Ronald«, beginnt er und seine Hand landet behutsam auf meiner Schulter, als er mich neben sich zieht. Ganz vorsichtig, als hätte er Angst, dass ich verschwinde, wenn er zu fest zupackt. Das ist so süß und liebevoll, dass das Lächeln mir plötzlich wesentlich leichter fällt. »Darf ich euch meine bezaubernde Tochter vorstellen? Das ist Riley!«
Es gibt selten Menschen, die so gegensätzlich erscheinen. Während Pearl, mich mit einem Strahlen empfängt, sieht der Mann daneben aus, als würde ich die sieben Plagen bringen. Unter seiner strengen Musterung verrutscht das Grinsen. Er hat die Arme verschränkt, steckt im Gegensatz zu meinem Vater in einem maßgeschneidertem Anzug und steht mit einem Whiskey neben dem Grill. Pearl, deren goldene Haare zu einem strengen Dutt gesteckt sind, ist hingegen von ihrem Platz aufgesprungen. Das weiße Sommerkleid bringt ihre perfekte Bräune zum Vorschein, als sie auf mich zukommt und mich überumpelt, als sie ihre Arme um mich legt.
»Es ist schön dich kennenzulernen!«, sagt sie, als sie sich von mir löst und ihre Hände auf meinen Oberarmen verharren.
Diese Begrüßung erinnert mich so stark an Mum, dass Wespen meine Kehle zerstechen und sie zuschwillt. Ich kann nicht schlucken und das Grinsen rutscht noch weiter hinunter, obwohl ich das nicht will.
»Riley, das sind Pearl und Ronald Walker«, fährt Dad fort und übergeht das Schnauben von dem Mann, der sich mit einem Kopfschütteln abwendet. »Und diese drei bezaubernden Wesen, sind ihre Kinder«, fährt er fort, während meine Augen einen Augenblick länger bei dem zweiten Miesepeter auf diesem Grundstück verharren. »Theodore«, erklärt Dad und deutet mit der Hand auf den kleinen Jungen, der sich hinter einem Stuhl versteckt. »Madeleine«, dabei lenkt er meine Aufmerksamkeit auf das bezaubernde Mädchen, das ihrer Mutter aus dem Gesicht geschnitten ist und beneidenswerte blonde, lange Haare hat. Ich schenke ihr ein schüchternes Lächeln, das sie mit einem abschätzigen Blick abtut, von dem ich dachte, dass man ihn erst in der Highschool lernt. »Und der schüchternste von allen, ist der liebe Colin.«
Der liebe Colin.
Das ich nicht lache.
Der Trottel hat die Arme vor der Brust verschränkt und starrt auf sein Smartphone, als würde ich gar nicht existieren. Dabei habe ich nach dem Treffen in der Bibliothek gedacht, dass wir einigermaßen gut klarkommen würden. Doch scheinbar erfülle ich seine Ansprüche nicht.
»Mach dir nichts draus«, flüstert Dad hörbar, »er hat Angst vor Mädchen. Nimm’s also nicht persönlich, wenn er vor die wegrennt.«
»Sehr lustig«, kommentiert Colin trocken, während Dad ein lautes Lachen ausstößt und den Stuhl ihm gegenüber zurückzieht.
»Wo hast du deinen Humor gelassen?«, will Dad wissen, als ich mich stumm setze und dabei dem Blick von meinem Großvater begegne, der mit verschränkte Armen am Kopfende hockt und mich mit bösen Blicken erdolcht.
Donner? Blitze? Wo bleibt ihr?!
»Der muss irgendwo zwischen den Fallakten liegen geblieben sein, die ich für Dad sortieren musste. Vielleicht hat er Glück und findet ihn.« Colins Stimme trieft vor Trotz und mein Kopf fliegt hoch.
Irgendetwas daran ist mir vertraut.
Ich beobachte, wie er sich ein Blickduell mit seinem Vater liefert, ehe er den Kopf dreht und unsere Augen sich treffen.
Und plötzlich bin ich nicht mehr bei meinem Dad auf der Terrasse.
»Kurzer Hinweis für Erstsemester: Keiner beginnt am ersten Tag mit den Hausarbeiten.«
Mein Kopf schießt in die Höhe und kurz bin ich von dem Licht der Glühbirne geblendet, die in den alten Lampen stecken. Während meine Augen sich nur langsam an das schummrige Licht gewöhnen, höre ich die Bibliothekarin, die am Ende des Ganges Bücher einsortiert. Ein weiteres Rascheln lenkt meine Aufmerksamkeit auf meine Literaturliste, die der fremde Kerl heranzieht und studiert. »Chapman im ersten Semester?«, murmelt er nachdenklich und kneift die Augen zusammen, deren Farbe ich nicht ausmachen kann. Dafür erkenne ich nun deutlich die dunkelbraunen Haare, die ein wildes Durcheinander sind. Seine Augen wandern zu mir, als er den Zettel zurückschiebt. »Das ist wirklich hart. Hast du dir das gut überlegt?«
Blinzelnd starre ich den Fremden an, ehe ich die Liste heranziehe und kurz nach einem Namen suche. Doch da steht nichts. Stirnrunzelnd schaue ich auf.
»Woher…?«, setzte ich.
»Ich hatte vorletztes Semester fast die gleiche Liste«, beantwortet er die unausgesprochene Frage und ein schiefes Grinsen umspielt seine Lippen, das ansteckend ist.
Ich kann nicht verhindern, dass meine Mundwinkel sich ein wenig verziehen.
»Trotzdem beantwortet es nicht meine Frage.« Er stützt sich mit den Ellenbogen auf die alte Tischplatte und mustert mich eingehend.
Ich bin es nicht gewohnt angesprochen zu werden.
Schon gar nicht in einer Bibliothek.
Da ist es nämlich still.
Und keiner will was von einem wissen.
Schon gar nicht ein gutaussehender Typ.
Ich schätze, dass meine Wangen deswegen verdächtig brennen.
Doch was hat Mom mir geraten? Angriff ist die beste Verteidigung.
»Und wo sollte ich deiner Meinung nach sein?«, will ich wissen, wobei ich mich an den Bleistift klammere und hoffe, dass meine freie Hand keine Schweißflecken auf den Notizen hinterlässt. Das wäre wirklich peinlich.
»Du siehst nicht nach dem Wet-T-Shirt-Contest aus. Das wäre unter deinem Niveau«, sagt er nachdenklich und mir entweicht ein kleines Schnauben, was kein bisschen verärgert klingt. »Ich würde dich in den Schachclub stecken, wenn du keine Barton wärst.«
Es ist ein Scherz.
Jedoch einer, der mir das Lächeln aus dem Gesicht wischt.
Die Zunge bleibt mir am Gaumen kleben, wobei ich fassungslos den Unbekannten anstarre, der meine Reaktion wahrscheinlich falsch bewertet.
»Aber da du eine bist, solltest du heute Abend woanders sein, als bei solchen Langweilern«, fügt er hinzu und schiebt mir mit einem verschwörerischen Blick einen zusammengefalteten Zettel zu.
Woher zum Teufel, kennt dieser Kerl meinen Namen?!
Der Fremde schiebt den Stuhl zurück, doch seine Augen verweilen an einem Buch, das ich mir rausgesucht habe.
»Hast du was dagegen, wenn ich das bis morgen ausleihe?«, will er wissen und deutet auf einen Stapel. Ich bringe ein abgehacktes Nicken zustande, obwohl ich nicht weiß, ob ich das Buch noch brauche. Mit einer schnellen Bewegung zieht er es aus dem Stapel, steht auf und dreht sich zum Gehen um.
»Wilder«, entfährt es mir prompt und lässt den Kerl innehalten, der mich nun verwirrt anschaut. Ich schlucke die aufsteigende Panik herunter und hoffe, dass meine Wangen nicht so rot sind, wie sie sich anfühlen. »Ich heiße Riley Wilder. Mein Dad ist ein Barton.«
Meine Stimme ist abgehakt und klingt viel zu laut in meinen Ohren. Er nickt langsam, betrachtet mich, wobei er lässig das Buch gegen seine Hüfte drückt. Unsere Blicke begegnen sich und er scheint nach etwas zu suchen.
»Colin?!«, ertönt eine laute Stimme, woraufhin sich die Bibliothekarin mit verärgerter Miene umdreht und zu dem Brünetten Vogue-Model schaut, dass am Ende des Ganges aufgetaucht ist.
Er wirft einen leicht verärgerten Blick über die Schulter und schaut anschließend mit einem hinreißenden Lächeln zu mir.
»Dann bis heute Abend, Riley Wilder«, murmelt er und mein Herz macht einen seltsamen Hüpfer, ehe er sich umdreht.