3. Riley
Seit ich die Erinnerungen an die letzten Monate verloren habe und damit auch meine vermeintlichen Freunde, schaue ich weniger auf mein Handy. Warum sollte ich auch Zeit verschwenden auf Instagram oder einer anderen Plattform nach Freunden zu suchen, die eventuell gar nicht existieren. Statt meine Nase auf das kleinen Display zu drücken, stecke ich sie lieber in die Bücher, die ich heimlich aus der Privatbibliothek meines Großvaters abzweige.
Nur heute hätte ich lieber mal auf das Smartphone schauen sollen. Dann hätte ich nämlich mitbekommen, dass der Partner aus Dads Anwaltskanzlei, der mit in dem Haus wohnt, zurück ist – genau wie sein Sohn. Dann wäre ich vielleicht nicht in die lautstarke Auseinandersetzung gerannt und anschließend gegen das Glasfenster gerannt, weil ich so überrumpelt war.
Einer meiner elegantesten Auftritte, wie ich finde.
Ich schlage die Haustür hinter mir zu und lehne mich mit dem Rücken dagegen. Meine Augen fallen mir zu und ich lasse meinen Hinterkopf ein paar Mal gegen die Holztür fallen. Die Schmerzmittel lassen sowieso mittlerweile nach und ein anderer Weg, mir meine eigene Dummheit zu vermitteln, fällt mir gerade nicht ein.
Nichtmal eine Begrüßungsfloskel habe ich zustande gebracht. Nein, ich musste wie ein verschrecktes Huhn von dannen stürmen und mich in dem einsamen Hühnerstall verscharren.
Sehr erwachsen.
Ich presse meine Beute – Oliver Twist – gegen meine Brust, die sich langsam hebt und senkt. Kurz lausche ich der Ruhe, versuche sie auf meinen hektischen Herzschlag zu übertragen, ehe ich die Augen aufschlage und die Sonnenstrahlen betrachte, die auf die Holzdielen fallen. Die schweren Vorhänge wehen leicht in dem Wind, der durch das Haus gleitet, weil die Terrassentür ein Stück offen steht, sowie das Fenster neben meinem Bett.
Ich liebe den Ausblick.
Das habe ich von der ersten Sekunde an. Die tolle Küche und die schönen Möbel waren nebensächlich. Bis ich hier eingezogen bin, bin ich morgens aufgewacht und habe in eine kleine, etwas heruntergekommene Wohnsiedlung geblickt. Nicht, dass es mich gestört hätte, mich im Treppenhaus mit dem älteren Ehepaar über ihre kleinen Enkel zu unterhalten, aber das hier ist etwas anderes.
Mit einem Seufzer stoße ich mich von der Tür ab und lege das geklaute Buch auf einen kleinen Stapel. Dann ziehe ich das Handy aus der Tasche des Kleides und zu meiner Überraschung blickt eine Benachrichtigung auf.
Kurz überkommt mich Aufregung, die in der Sekunde verpufft, in der ich sehe, von wem der verpasste Anruf stammte.
Mom.
Neben ihr ist Dad der einzig eingespeicherte Kontakt in meinem Handy. Vielleicht hätte ich ehemalige Schulfreunde kontaktieren können, aber Mom hat der Mutter einer alten Freundin erzählt, was passiert ist.
Ich habe keine Nachricht bekommen.
Ziemlich aussagekräftig für unsere Beziehung nach der Schulzeit.
Daher habe ich drauf verzichtet.
Um die unangenehme und überaus peinliche Begegnung von eben zu vergessen, rufe ich meine Mom zurück. Kaum, dass das Wartezeichen ertönt, wird das Gespräch entgegengenommen.
»Hast du meine cremefarbene Bluse?!«, werde ich aufgeregt begrüßt und mein Plan mich auf das gemütliche Sofa zu setzten, wird zunichtegemacht.
»Die, die du bei meiner Abschlussfeier getragen hast?«
»Genau die!« Ich höre, dass Kleiderhaken aneinanderschlagen und die Stimme meiner Mutter hat einen panischen Unterton. Das letzte Mal war das der Fall, als unsere Nachbarn in Urlaub gefahren sind und ihr nach anderthalb Wochen aufgefallen ist, dass sie vergessen hat zu gießen.
»Wofür brauchst du sie?«, will ich wissen und steige die Treppe nach oben, während ich dem hektischen Treiben lausche. Ich kann mir vorstellen, wie sie gerade die Kleidungsstücke nacheinander auf das Bett wirft und dabei auf ihrer Lippe kaut, als würde sie ein Rätsel lösen müssen.
»Erinnerst du dich an den neuen Chefredakteur von dem ich dir erzählt habe?«
»Der mit der Glatze und der roten Hornbrille?«
»Genau der!« Ein weiteres Klacken, dann gibt sie einen tiefen Seufzer von sich und ich höre, das Knarren ihres Bettes, auf das sie sich gerade bestimmt gesetzt hat. »Ich habe Morgen ein Gespräch mit ihm und er hat angedeutet, dass ich die Chance habe den Kulturteil zu bekommen.«
»Als leitende Redakteurin?!«, entfährt es mir, als ich die Schranktüren aufreiße.
»Ganz genau! Stell dir das mal vor. Ich bei der Philadelphia Inquirer als Redakteurin des Kulturteils.« Ein verträumter Seufzer entfährt meiner Mom, was mir ein Lächeln auf die Lippen zaubert.
»Das wäre der Wahnsinn!«, stimme ich zu und beginne den Schrank zu durchsuchen.
»Ja, das wäre es.« Kurz wird es still und ich schiebe einen Kleiderhaken nach dem anderen zur Seite. »Aber genug von mir. Dein Dad hat mir geschrieben.«
Diese kleine Aussage reicht, um das schlechte Gewissen aufkochen zu lassen.
»Hat er das?«, murmle ich und wünschte, ich könnte einfach auflegen. Dieses Gespräch führen wir nicht das erste Mal und ich hasse es, dass mein Vater wirklich jeden zweiten Tag Bericht erstattet.
»Riley, du kannst dich nicht nur in deinem Zimmer verschanzen«, beginnt sie.
»Das mache ich nicht. Ich lese eben nur sehr gerne und hab meine Ruhe. Außerdem habe ich…«
»Noch Kopfschmerzen«, beendet Mom den Satz, den ich jedes Mal aufs Neue abspiele. »Das erzählst du mir schon seit du dort eingezogen bist und entweder wirken deine Tabletten nicht, oder du willst deinem Vater und Großvater aus dem Weg gehen.«
Auch ein Punkt, den wir schon öfter diskutiert haben.
»Ich hatte heute Morgen wirklich welche«, verteidige ich mich lahm.
»Du hast sie keine Vierundzwanzig Stunden am Tag«, werde ich sanft erinnert. »Warum schreibst du nicht deinen Freunden und fragst, ob ihr was unternehmt?«
Weil ich keine habe, Mom.
Ich spreche es nur nicht laut aus.
Stattdessen entfährt mir ein tiefer Seufzer und ich ziehe die Bluse hervor, die in meinem Schrank hängt.
»Ich hab die Bluse gefunden«, versuche ich abzulenken und ziehe das feine Stück hervor, das ich behutsam auf mein Bett lege.
»Riley«, kommt es mahnend von der anderen Seite.
»Schon gut!, kapituliere ich. Es hat noch nie geklappt ihr auszuweichen. Warum hätte es auch diesmal funktionieren sollen?
Mit einer grimmigen Miene werfe ich die Bluse und den Kleiderhaken auf das Bett und trotte zu dem offenen Fenster.
Vielleicht hilft frische Luft, um dieser anstrengenden Konversatiuon standzuhalten.
»Ich mache mir Sorgen«, sagt Mom, als ich an das Fenster trete und auf den langen Steg schaue. »Du bist so weit weg und ich…« Moms weitere Aussage nehme ich nicht wahr, weil plötzlich jemand über den Steg rennt. Bevor ich den Typen genauer betrachten kann, hat er sich mit einem großen Sprung kopfüber in den See verabschiedet – samt Klamotten.
Mein Mund klappt ein Stück auf und ich trete näher an das Fenster, die Stimme meiner Mutter ist ein Rauschen in meinem Ohr. Blasen sind an der Stelle auf, an der der Körper eingetaucht ist, doch der Kerl taucht nicht wieder auf. Falten bilden sich auf meiner Stirn und ich suche in dem See nach einem Kopf, der aufgetaucht ist, doch nichts passiert. Mom redet weiter und ich starre auf das Wasser, werde irgendwann nervöse.
Was macht man, wenn jemand nicht mehr auftaucht? Die Polizei rufen? Den Rettungsdienst oder Ms. Porter?
Ich schlucke schwer, trete auf der Stelle und dann – aus dem Nichts – taucht ein Kopf auf. Nur ein Stück von der Stelle entfernt, in der er ins Wasser gesprungen ist.
Ist das der Typ, den ich eben im Streit unterbrochen habe?
Mit ein paar kräftigen Zügen schwimmt er zurück zum Steg und stemmt sich daran hoch. Das weiße T-Shirt klebt eng an seinen trainierten Oberkörper. Mit einer eleganten Bewegung hat er sich aufgerichtet und Wasser tropft von seiner kurzen Jeans auf das Holz. Er schüttelt den Kopf und streicht sich mit der Hand durch die Haare, ehe er aus seinen weißen Sneakern schlüpft und das Wasser auskippt.
Das ist definitiv der Kerl von eben und er scheint leicht verrückt zu sein.
Und attraktiv.
Das kann ich nicht abstreiten, während ich die Statur betrachte und das Gesicht, das ich aus der Entfernung jedoch nur erahnen kann. Da hilft auch meine Brille nicht. Ich runzle die Stirn, als er triefnass und mit den Schuhen in den Händen losläuft und anfängt, alle möglichen Gegenstände aufzuheben.
Hat er die etwas einfach weggeworfen?
Fassungslos beobachte ich, wie er zuerst seine Geldbörse aufnimmt und schließlich nach seinem Handy greift, das einige Meter entfernt liegt. Dann fliegt sein Kopf zu mir. Nicht in meine Richtung oder zu dem Gebäude, sondern zu mir, wie ich oben am Fenster stehe.
Eine Sekunde treffen sich unsere Blicke und meine Brust zieht sich kurz zusammen. Einen Wimpernschlag später ducke ich mich, und suche Schutz hinter der Fensterbank.
»Mist«, fluche ich und balle die freie Hand zur Faust.
Der Typ muss bemerkt haben, dass ich ihn beobachte. Und wieder lege ich einen astreinen Abgang hin.
»Riley?«, reißt Mom mich aus meinen Gedanken.
»Ja?«, gebe ich gequält von mir und beiße mir auf die Zunge.
Feigling!, zwitschert etwas in meinem Kopf, das ich liebend gern mit einem dicken Holzhammer erschlagen würde.
»Hast du mir nicht zugehört?«
»Doch, natürlich.«
»Und was habe ich dich gerade gefragt?«, tönt es skeptsich aus dem anderen Ende der Leitung.
»Wie das Wetter so ist?«, rate ich schlecht. Bei ihr muss ich gar nicht erst versuchen zu bluffen. Das war so, als ich meinen ersten Kuss bekommen habe und auch, als ich meine erste und einzige Vier bekommen habe.
»Riley!« Enttäuschung schwappt durch das Telefon.
»Sorry, ich war abgelenkt.« Auf mein Geständnis folgt eine kurze Pause und ich linse zu der Fensterbank.
Ob er noch da unten steht?
»Versprich mir bitte, dass du dich die nächsten Tage mehr unter Menschen begibst«, fordert sie mich auf.
»Versprochen«, seufze ich, auch wenn ich keinen Schimmer habe, wie ich das anstellen soll. Der Typ für spontane Freundschaften bin ich nämlich nicht.
»Wenn dein Vater noch einmal schreibt, dass du dich verschanzt, dann muss ich die Mutter raushängen lassen und wir wissen beide, dass ich darauf keine Lust habe.«
»Ja, Mom«, gebe ich gedehnt von mir und taste nach meinen Wangen, die heiß geworden sind. Ich war noch nie gut, darin Gefühle zu verbergen und ich bin sehr talentiert darin in peinliche Situationen zu geraten.
»Gut, und jetzt sag mir bitte, was ich stattdessen morgen anziehen soll.«
»Schwarze Jeans mit deinen neuen Pumps und dazu den weißen Blazer mit dem Seidentop«, rattere ich herunter und sehe sie vor mir, wie sie langsam nickt.
»Stimmt, das könnte klappen. Ich probiere das aus und schick dir ein Foto.«
»Geht klar«, stimme ich zu und Erleichterung über das Ende des Telefonats überkommt mich. Ich liebe meine Mom, aber es ist schwer, ihr eine heile Welt vorzuspielen, wenn man keine Freunde hat.
»Und Riley«, beginnt sie ein weiteres Mal. »Bitte, versuch etwas mehr rauszugehen. Das macht mir mittlerweile wirklich Sorgen.«
»Mach ich«, murmle ich und spüre, dass meine Stimme kurz vorm Brechen ist.
»Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch.« Beim letzten Wort ist meine Stimme am brechen, doch bevor sie es merkt, habe ich aufgelegt und starre auf das Display, der eine weitere Nachricht anzeigt.
Dad: Ronald und sein Sohn Colin sind früher zurückgekommen. Möchtest du heute Abend mit uns Essen und sie schon kennenlernen?
Schon wieder, fliegt die Stimme von meinem brummigen Großvater durch meinen Kopf. Kurz zögere ich, doch dann siegt das altbekannte Gefühl: Die Angst.
Riley: Ich habe noch Kopfschmerzen. Wäre auch Morgen in Ordnung?
Ich warte keine Antwort ab, als ich mein Handy auf den Nachttisch lege und auf stumm stelle. Dann krabble ich auf allen vieren davon und weiß, dass ich jedes Fenster bis Morgen meiden werde. Der Gedanke, dass es Morgen noch unangenehmer werden könnte, meide ich.
Das Problem, wenn man Bücher stibitzt, ist, dass man sie wieder zurückbringen muss. Jedenfalls, wenn man sich weiterhin an der Bibliothek jemand anderes bedienen möchte. Da ich nicht daran interessiert bin, dass mein Großvater mich häutet oder seine Räumlichkeiten verschließt, achte ich darauf, dass ich die Werke nie länger als zwölf Stunden ausleihe. Zwar bedeutet es, dass ich die Bücher in einem Satz lesen muss, aber ich habe nichts besseres zutun. Daher habe ich auch Oliver Twist in einem Zug verschlungen.
Ich habe gelernt, dass es einen Zeitpunkt gibt, zu dem man sich durch das Haus schleichen kann, ohne, dass man jemandem über den Weg läuft.
Das ist gegen drei Uhr morgens.
Es gab schon Nächte, in denen mein Vater bis halb zwei gearbeitet hat und auch zu früher Stunde um fünf Uhr habe ich meinen Großvater im Flur getroffen. Glücklicherweise hat er mir die Lüge abgekauft, dass ich Hunger habe. Seinen Unmut über die Jugend, den er leise murmelnd von sich gegeben hat, habe ich so gut es geht ignoriert. Dass ich heute Mittag ein Buch hab mitgehen lasse, habe ich bitter bereut und ich hätte es auch nicht gewagt, wenn ich nicht gewusst hätte, dass Dad in einem wichtigen Meeting ist und mein Großvater sich zu einem langen Spaziergang aufgemacht hat.
Diesmal bin ich auf Nummer sicher gegangen und habe das Haus eine halbe Stunde lang beobachtet und aufgeschrieben, wann das Licht der jeweiligen Zimmer ausgegangen ist. Dad muss gegen halb Zwölf ins Bett gegangen sein und mein Großvater so gegen halb Zwei. Seitdem ist es bis auf das Licht des Mondes stockdunkel.
Beste Voraussetzungen für meine Mission.
Ich habe das gelbe Sommerkleid gegen schwarze Jeansshorts und ein olivgrünes T-Shirt getauscht. Dazu die weißen Sneaker in denen ich gut rennen kann – nicht geplant, aber wenn erforderlich bin ich bereit zur Flucht.
In der Stille der Nacht, klingt es so, als würde ich die Terrassentür aufbrechen. Ein lautes Knarren ertönt und ich halte den Atem an, lausche nach verdächtigen Geräuschen, während ich mich an das Buch klammere. Doch es bleibt still. Ohne die Tür hinter mir richtig zu schließen, husche ich in das Haus und biege direkt in den kleinen Flur, der zu der Bibliothek führt. Erneut halte ich inne, schaue die Treppe hoch und verschwinde dann in meinem Lieblingszimmer, das ich eigentlich nicht betreten darf. Diesmal ziehe ich die Tür zu und nehme das Handy, um die Kamera einzuschalten.
In dem grellen Licht, wirkt der Perserteppich, der auf dem Holzboden liegt, nicht so romantisch, wie am Tage. Und auch die Bücherrücken, die teilweise vergriffen sind, verlieren ein wenig ihren Charme. Doch ich habe diesen Raum mehrmals betreten und kann mir vorstellen, wie unglaublich es sein muss hier drin in einer Geschichte zu versinken.
Normalerweise bin ich nicht der Typ, für waghalsige Aktionen. Ich hatte Angst die Schule zu schwänzen und war diejenige, die immer die Hausaufgaben hatte. Niemals bin ich nachts heimlich aus dem Zimmer geschlichen, um mich mit einem Jungen zu treffen, doch als ich nach dem Unfall diesen Raum gesehen habe, konnte ich nicht anders. Es erschien mir wie der Himmel auf Erden, eine Möglichkeit mich von fehlenden Freunden und anstehenden Kurswahlen abzulenken, also hab ich’s einfach gemacht.
Erst einmal.
Dann zweimal.
Und dann nahezu jede Nacht.
Ich schätze, dass das dazu beiträgt, dass mein Kopf morgens oftmals protestiert, aber diese Auszeit ist es mir wert.
Mit dem Smartphone beleuchte ich das Bücherregal und suche nach den Büchern zwischen denen ich es heute Mittag hervorgezogen habe. Es stand zwischen 1984 und Der große Gatsby. Eine Logik habe ich in der Ordnung bisher nicht finden können, daher präge ich mir die Bücher daneben ein. Nicht, dass der alte Greis nich feststellt, dass ich Bücher ausleihe.
Stirnrunzelnd tapse ich über den Perserteppich und finde den bekannten Buchrücken von Der große Gatsby. Nur steht links davon plötzlich Odyssee.
Ich stutze.
Verflixt.
Wenn mein Großvater sich den Roman genommen hat, dann wird ihm auffallen, wenn dort morgen plötzlich ein anderes Buch steht.
»Kacke«, zische ich und trete auf der Stelle herum.
»Das sagt man aber nicht.«
Die raue Stimme kommt aus dem Nichts.
Ich wirble herum, flüchte zwei Schritte nach hinten und stoße mit dem Rücken gegen das Bücherregal, wobei Oliver Twist und das Handy durch meine Finger gleiten und mit einem dumpfen Ton auf den Boden prallen. Das Herz rutscht mir in die Hose und der Schrei bleibt mir in der Kehle hängen. Ein kleines Klacken ertönt und einen Wimpernschlag später ist die kleine Lampe an, die sich auf dem Beistelltisch neben der Fensterbank befindet.
Da sitzt er.
Der Kerl vom See.
Am offenen Fenster, mit einem schwarzen Kapuzenpulli, den er sich über den Kopf gezogen hat. Seine Beine stecken in Jeansshorts und er trägt schwarze Sneaker. Durch das dimmrige Licht werden die Kanten seines symmetrischen gesichts hart gezeichnet. Ein ernster Ausdruck hat sich auf seinem Gesicht breit gemacht und ich kann nicht verhindern, dass mein Herz einen seltsam, vertrauten Hüpfer macht.
»Edwin hasst es, wenn man sich seine Bücher ausleiht«, informiert er mich mit ruhiger Stimme und einem eindringlichen Blick. Ich kann meine Augen nicht von seinem Gesicht losreißen, fühle mich seltsam gefangen.
Er kneift die Augen zusammen, scheint auf etwas zu warten und erst jetzt fällt mir auf, dass er 1984 in den Händen hält. Ein Problem weniger. Das andere sitzt jedoch seelenruhig mit überschlagenen Beinen auf den Sessel und starrt mich an.
Sag was, Wilder!
»Kennen wir uns?«, presse ich mit viel zu hoher Stimme hervor.
Sehr Selbstbewusst.
Verwirrung huscht über seine steinerne Maske, die sofort wieder verschwindet. Er öffnet den Mund, nur um ihn Sekunden später wieder zu schließen und nachzudenken.
Es ist eine unangenehme Situation.
»Kommt drauf an, wie du kennen definierst«, weicht er aus und sein Blick gleitet über meinen Körper. Nicht anzüglich, aber es reicht, dass mir Blut in die Wangen schießt.
»Was?« Ich bin verwirrt, blinzle und versuche nicht an die Bücher zu denken, die sich schmerzhaft in meinen Rücken bohren. Doch ich wage es nicht mich zu bewegen.
Warum nur?
»Wenn es bedeutet, dass du einem Streit zwischen mir und meinem Dad gelauscht hast und mich begafft hast, als ich aus dem See gestiegen bin, dann kennen wir uns, ja.«
Wow.
Wooooow.
Mir fällt alles aus dem Gesicht, während Mr. Obercool lässig sitzen bleibt und abwartet.
Zu gern würde ich diesem Schnösel gerade ein Buch um die Ohren pfeffern, aber das wäre Schade, um den Einband.
Ich schüttle den Kopf, als könnte ich so seine letzten Worte aus den Ohren bekommen und presse dann die Lippen zusammen.
Wer mir so unfreundlich gegenübertritt, den brauche ich keine Sekunde länger beachten.
Mit meinem Mund, der nur noch eine schmale Linie ist, bücke ich mich und greife nach dem Buch und dem Smartphone, dessen Taschenlampe noch an ist. Mit einer unbekannten Wut im Bauch wende ich mich ab und verstaue das Buch an seinem alten Platz. Ich versuche, die Schritte zu ignorieren, die plötzlich ertönen, doch als ich mich umdrehen und gehen will, laufe ich fast gegen eine Hand.
Meine Augen folgen den schmalen Fingern dem Arm hinauf, bis ich schließlich sein Gesicht finde. Er hat dunkelbraune Haare und seine Augen sind…
Grün?
Ich muss schwer schlucken, als ich die dunklen Nuancen auf seiner Iris erkenne, die mich sehr an den Tannenwald erinnern. Und dann ist da noch dieser seltsame Geruch. Eine Mischung aus Leder und Rauch?
»Colin Walker«, sagt er und sein rechter Mundwinkel zieht sich langsam nach oben. »Und ja, wir kennen uns.«
Ich mustere skeptisch das Gesicht. Die gerade, etwas breitere Nase und die vollen Lippen. Diesmal bin ich diejenige, die eine ausdruckslose Maske aufgesetzt hat. Es dauert einen sehr langen Moment, bis ich zögerlich nach seiner Hand greife.
Seine Hände sind rau und weich.
Eigentlich ziemlich angenehm.
»Tut mir leid«, sage ich langsam. »Ich kann mich an die letzten Monate nicht erinnern.«
Seine Augen bohren sich in meine. Wieder so, als würden sie nach etwas suchen.
»Gar nicht?«, hakt er nach.
Ein Kopfschütteln meinerseits.
»Verstehe.« Seine Stimme ist ein leises Murmeln, als ich ihm meine Hand entziehe und unschlüssig stehen bleibe. Ich strenge mich an, versuche mich an irgendetwas, an dem Typen zu erinnern.
Waren wir aus?
Oder nur Kommilitonen?
Hab ich seine Hausaufgaben gemacht?
Das hätte ich bestimmt.
Bei den Augen wäre ein Nein nahezu unmöglich gewesen.
»Du solltest vorsichtiger sein. Edwin hat Nächte, die er hier verbringt. Am besten schaust du vorher durch das Fenster«, erklärt er mit einem kurzen Nicken in eine Richtung, doch ich sehe weiterhin ihn an.
»Danke für den Tipp«, sage ich langsam und starre noch einen Moment. Dann weiche ich langsam zurück und kaue auf meiner Lippe. Ich drehe mich um und werfe einen letzten Blick über die Schulter, ehe ich den Raum verlasse.
Colin steht immer noch an derselben Stelle und beobachtet mich.
Und als ich die Tür zur Bibliothek zuziehe, bin ich mir sicher, dass ich genau wissen sollte, wer er ist.
Nur ist mein Kopf weiterhin leer.
Ach Leute, würde ich gerne mehr Kapitel hochladen? Ja. Hab ich schon mehr geschrieben, als ihr zu lesen bekommt? Auch ja. Hoffe ich, dass ich eine baldige Lesenacht veranstalten kann? Ja. Solange mir mein Urlaub keinen Strich durch die Rechnung macht 😀 Passt auf euch auf!